RCE von Sybille Berg gelesen


In den letzten beiden Wochen habe ich RCE von Sybille Berg (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) gelesen. RCE steht für Remote Code Execution. Das ist das, was passiert, wenn Hacker Admin-Zugriff auf dein System haben und dort Code ausführen können. Es ist der absolute Worst-Case bei Cyber-Security. Und zu einem Teil geht es im Buch ums Hacken, aber nur als Werkzeug für den Plot, niemals spezifisch mit Codezeilen oder speziellen Hack-Abläufen. Zum anderen ist unser System, die Erde, auch gerade in einem Worst-Case-Szenario.

Hier meine Besprechung dieses tollen und wichtigen Buches.

Der Zustand unserer Welt

Sybille Berg beschreibt in diesem Nahzeit-SciFi-Roman den Zustand unserer Welt und unserer Gesellschaft. Beide gehen am immer mehr ausufernden Kapitalismus zugrunde. Sie beschreibt ausführlich und sehr gut recherchiert, was alles schief läuft. Da ist eine nie dagewesene Ungleichheit, die dazu führt, dass einige wenige fast alles besitzen, während alle anderen immer weniger haben. Diese Superreichen kämpfen mit Lobbyismus und gerne auch Steuerhinterziehung dagegen, Steuern auf ihre übermässigen Einkommen und Vermögen zu zahlen. Dadurch wird der Staat immer schwächer und kürzt allen anderen, die ohnehin immer weniger besitzen, immer mehr soziale Leistungen. Und Rechte.

Deswegen werden normale Menschen, also die Mehrheit, immer unzufriedener und glauben immer weniger an den Staat. Auch das schädigt unsere Gesellschaft. Statt zu verstehen, dass die Reichen ihre Feinde sind, glauben sie dem, was auf sozialen Medien geteilt wird: Schuld an allem haben Flüchtlinge, Ausländer, insbesondere Muslime, aber auch Frauen, Schwule und Transmenschen. Und vieles von diesem Quatsch kommt, was denkt ihr, aus Trollfarmen und Thinktanks, die von Reichen beauftragt und bezahlt werden.

Statt fürs Verschlechtern des eigenen Zustands demokratische Lösungen zu finden (und die wahren Verursacher, die Reichen, die übrigens auch das mit Abstand meiste CO2 in die Atmosphäre knallen, anzugehen), ziehen sich lieber alle in Isolation zurück und entladen Hass im Internet. Das ist das, was von unserer Gesellschaft übrige bleibt.

Wir Normalos, die Mehrheit, werden auch anderweitig auf Trab gehalten, indem man einfach uns die Schuld am Zustand der Welt gibt (und nicht den Firmen und dem ausufernden Endlos-Wachstum, das unbedingt benötigt wird [1] Sonst dreht sich die Sonne nicht mehr um die Erde. Oder die Erde um die Sonne? Ist auch egal. Wir alle sind schuld, aber die armen, globalen Firmen und die armen Reichen auf keinen Fall. ):

Lassen wir die Menschen ihren Müll in 67 Tonnen trennen und schütten den Scheiß am Ende wieder zusammen, lassen wir sie Kleidung spenden, die wir am Ende verbrennen, nötigen wir sie zu einem Schuldgefühl und übertragen wir ihnen die Verantwortung für alles. Sie müssen nur bewusst konsumieren, wohnen, leben, es liegt an ihnen, sich um die Armen zu kümmern, die Straßen rein zu halten, das Plastik aus dem Meer zu fischen, und lasst uns buhen. Nicht bei den geleasten Jets, die für den Großteil der Verdreckung der Luft zeichnen. Nicht vor den Villen in all den Gated Communities weltweit, die ihre Parkanlagen mit Wasser flusten, währen die Bevölkerung auf ihre mit Fleißpunkten erworbene, rationierte Wasserzuteilung, die Wasserbörse, wartet. (S. 381) [2] Aus einem Zitatpost auf Bookrastinating.com meinerseits.

Technologie überwacht uns alle in Bergs Zukunftsvision immer, außer natürlich die Reichen. Im Buch wird Überwachung ab 100 Millionen Euro Vermögen quasi verboten. Laut Berg werden wir bald alle kleine, smarte Devices tragen, die unser Konsum- und Gesundheitsverhalten überwachen, damit die Krankenkassenkosten super gerecht übernommen werden. Saufen wird bestraft, zu süßes Essen kaufen wird bestraft, Saufen und Essen mit z.B. Aktivistinnen wird bestraft usw. Fliegen dürfen normale Menschen nicht mehr, aber natürlich fliegen Privatjets weiterhin. Wer jung und gesund ist und Sport treibt, zahlt wenig. Wer alt ist oder dummerweise einen Unfall hatte, zahlt eben viel oder fliegt raus, wenn er/sie gerade die Krankenhauskosten bezahlen müssen.

Und so weiter und so fort. Jeder Bereich des öffentlichen und privaten Lebens wird mit derzeitigen technischen Entwicklungen nur ein bisschen in eine unmittelbare Zukunft überhöht - und am Ende kommt quasi Arbeitslager für alle heraus. Viele von uns werden ersetzt durch Roboter, und landen dann ohne Krankenversicherung am Rand der Stadt. Dort kann man auch, wenn gar nichts mehr geht, Sterbehilfe in Anspruch nehmen, um die Gesellschaft und die Welt von der eigenen unnützen Existenz zu befreien. Wenn jemand ermordet wird, muss man die Polizei bezahlen, falls man sich Ermittlungen wünscht.

Wie wir unsere Welt retten könnten

Aber, so wie Kim Stanley Robinson in Ministry for the Future, bietet Sybille Berg auch hier eine Lösung an, wie wir alle diese Welt retten könnten. Und, so natürlich bereits der Titel, hacken ist erforderlich, um das alte, kranke, demnächst wieder feudale System zu zerstören.

Ich verrate hier nicht mehr als dass dieser Systemsturz uns vielen kaum Angst machen sollte. Im Buch wird das Finanzsystem in allen seinen Auswirkungen zerstört, aber nur, um Ungleichheit zu glätten. Wer eine Wohnung hat, behält sie. Aber warum sollte jemand 50 Wohnungen in 48 Städten auf vier Kontinenten haben? Und wenn die Fabriken nicht mehr globalen Konzernen mit Macht nach oben und unten gehören, glaubt ihr dann, die würde niemand weiter betreiben?

Was mir auffiel beim Lesen

Erzählt wird das Ganze in einer seltsamen
Formatierung der Sätze, die ein wenig an LinkedIn und andere soziale Medien
erinnert. Aber.
Man gewöhnt sich dran. Und viele der Sätze
klingen auch mit dem Punkt mittendrin und einem weiteren Wort, das einen einzelnen Satz bildet, ganz gut.

Und

noch was fiel mir auf. Das Buch ist quasi ein 679 Seiten langer, einziger Abschnitt ohne Kapitel. Das würde normalerweise stören, hier aber nicht so sehr. Sybille Berg wechselt oft die Perspektiven, geht nahtlos, mitten im Satz, aber sinnvoll von einer Person zur nächsten. Die jeweiligen Personen werden kurz - und witzig - vorgestellt, erläutert anhand von Name, Beruf, sexuellen Interessen, Gesundheit, Vermögen, kurz all dem Quatsch, den man durch sehr granulare, individuelle Überwachung rausfinden kann. Das soll einem dann, so die Idee unserer BigTech-weißen-Übermenschen-die-nach-ihren-Glücksmilliarden-an-Meritokratie-glauben, genau sagen, wen man da vor sich hat. Na, ihr werdet schon sehen, was euch das genau über diese Personen sagt.

Jedenfalls liest sich dieser endlose Übergang von einer Person zur nächsten, von einer Perspektive zur nächsten, quasi wie TikTok sich anfühlt. Wisch, nächstes Video, nächste Welt, nächste Gemütsverfassung, nächster Hintergrund und Umfeld und Problem. Und wisch, weiter. Manchmal natürlich kommt jemand wieder, manche sind selten oder wirklich nur einmal da. Manche bleiben auch immer anonym, aber wir Leser wissen trotzdem, wer damit gemeint ist.

An beides gewöhnt man sich schnell, weil Sybille Berg flott und überzeugend schreibt, schnoddrig fällt mir auch ein. Mir hat’s sehr gut gefallen. Ich denke, das Buch ist wichtig für euch alle, genau in dieser Zeit. Denn wir sind die normalen Menschen, die von Superreichen und riesigen, supranationalen Firmen verarscht werden. Und Sybille Berg öffnet uns dafür die Augen und zeigt uns sogar einen möglichen Weg, das zu lösen. Unser letztes Aufstehen, um diese Welt vor dem Untergang zu retten.

Lesen nicht euer Ding? Was ist mit Theater?

Wem das Buch zu dicke ist, im Berliner Ensemble gibt’s RCE als Theaterstück. Das lohnt sich selbst für Leute, die eher selten oder gar nicht ins Theater gehen. Denn das ist wirklich modern inszeniert, von Bühnenbild mit viel Beamer-Effekten, dieser dauernd abwechselnden Sprech- und Sichtweise des Buches, verstörendem Gang und Tanz der Schauspieler, bis hin zu Techno-tanzenden, rosa Aliens.