Gott ist nicht schüchtern im Berliner Ensemble
Theaterbesuch: Gott ist nicht schüchtern im Berliner Ensemble
Meine Auserwählte und ich waren am Sonnabend, 11. März, im Berliner Ensemble bei Gott ist nicht schüchtern. Gespielt haben Cynthia Micas als Amal, Armin Wahedi als Youssef, Oliver Kraushaar in zwei Rollen und Marc Oliver Schulze als Hammoudi, Regie führte Laura Linnenbaum und das Bühnenbild stammt von Daniel Roskamp. Das Stück ist von Olga Grjasnowa.
Wir haben Plätze in der zweiten Reihe. Meine Auserwählte warnt mich, falls sich dort vorne ein Schauspieler an uns richtet, daß sie nichts antworten wird, und ausnahmsweise dieses eine Mal froh ist, wenn ich wie immer alle Aufmerksamkeit auf mich ziehe, ich schüchternes Kerlchen. Und genau so kommt es dann fast: Vor dem Stück schaut uns Oliver Kraushaar kurz an, als er sich in die Nähe des Publikums begibt und Zuschauer begrüßt, die an ihm vorbei zu ihren Plätzen gehen. Kraushaar spielt im Stück zwei Rollen, einmal Amals Vater und einmal einen anonymen syrischen Geheimdienstmann. In dieser Geheimdienstfunktion sitzt er da, während das Publikum auf seine Plätze strömt, und gibt uns Zuschauern das Gefühl des Beobachtetwerdens. So fühlt man sich wahrscheinlich in Syrien auch ständig beobachtet durch kräftige Männer mit Sonnenbrillen, markanten Unterkiefern und Schnauzbärten und humorlosem Interesse. Laura Linnenbaums Inszenierung arbeitet viel mit solchen Allegorien.
Was ich an Theater mag, ist ohnehin, daß jedes Stück live, authentisch, auf diese Art nur dieses eine Mal aufgeführt wird. Aufführungen unterscheiden sich von Mal zu Mal, was u.a. an der Tagesform und Laune der Schauspieler liegen mag, ebenso wie an meiner eigenen. Manchmal fällt auch jemand aus, Schauspieler:innen sind auch nur Menschen, und wird für eine Aufführung ersetzt. Das ist in Fernsehen, Streaming und Kino anders: einmal produziert, kann eine Produktion endlos wiedergegeben werden, ist aber immer genau gleich. Theater entspricht also einem Ölgemälde, das es so nur einmal gibt, und ein Film ist sowas wie ein Foto, beinahe beliebig oft reproduzierbar. Und umso weiter vorne man sitzt, besonders in meinem Alter, umso besser kann ich sehen und umso persönlicher fühlt es sich an.
Daher mag ich insbesondere Aufführungen auf kleinerer Bühne. Wir sind dieses Mal im Berliner Ensemble zu Gast und dort in deren mittleren Bühne, dem sogenannten Neuen Haus. Gleich daneben ist der Werkraum, der noch intimer ist. Hauptvorteil kleiner Bühnen: wir Zuschauer sitzen näher am Geschehen. Aus meiner Sicht gibt es aber oft weitere Vorteile: die bereits arrivierten Schauspieler spielen oft und viel vor großem Publikum auf der Hauptbühne. Auf den kleineren Bühnen spielen eher die neuen Schauspieler und eher die jüngeren, so meine Beobachtung. So gibt es z.B. im Berliner Ensemble das Programm Worx, das Nachwuchsförderungsprogramm im Werkraum. Auch die Regie für die Nebenbühnen ist häufig innovativer, politischer, aggressiver, finde ich. Wahrscheinlich fällt man nur so auf und entwickelt sich. Ach, und manchmal sind die Freunde und Bekannten und Kollegen der anwesenden Schauspieler:innen da, und sie sind oft frenetisch und extrovertiert, was ihren Beifall angeht.
In diesem Stück steht nach ca. einer Stunde Cynthia Micas, die die angehende syrische Schauspielerin Amal spielt, vor einem Ständermikrofon genau vor mir, nicht mal zwei Meter entfernt. Als einzige weibliche Darstellerin hat sie das Stück zu tragen, finde ich, was immer dann passiert, wenn sich eine Schauspielerin allein mit mehreren Schauspielern (oder umgekehrt: ein Schauspieler mit mehreren Schauspielerinnen) auf der Bühne wieder findet. Und das tut sie, sie trägt es, und spielt insbesondere in der Szene am Mikro so gut, so herzergreifend, so traurig, daß ich - ehrlich gesagt - mit Tränen zu kämpfen hatte. Amal tut mir leid. Auch ihre tänzerischen Fähigkeiten sind gefragt, eher am Anfang des Stückes, als die Welt des Stückes noch in Ordnung ist. Am meisten überrascht mich jedoch Micas’ perfekt dosierte, einfühlsame Gesangseinlage ungefähr in der Mitte des Stücks. Wir Laien denken immer, was genau macht denn ein Schauspieler so sein ganzes Leben außer alle paar Abende mal 90 Minuten auf der Bühne rumlungern? Nun weiß ich es: sprechen üben, sich bewegen üben, tanzen üben, singen üben.
Der direkte Blickkontakt mit Amal, die vor mir am Mikro etwas proklamiert, ist gefühlt mehr als minutenlang und (zumindest für mich) sehr intensiv. Normalerweise ist so direktes In-die-Augen-schauen mit unbekannten Personen, zumal vom anderen Geschlecht, peinlich. Aber Amal ist im Stück und Cynthia Micas im Leben Schauspielerin. Sie will direkt und ausgiebig angeschaut werden, oder? Das ist doch der Punkt, um den es beim Schauspielern geht. Ich glaube, sie erinnert sich nicht an mich, diesen ausdauernden Starrer direkt in Augenhöhe vor dem Mikro in ihrer Mikrofon-Szene, oder wenn, dann bei Weitem nicht so sehr wie ich mich an sie. Ich weiß nicht mal, ob man als Schauspielerin bei der üblichen Bühnenbeleuchtung überhaupt jemandem im Publikum sieht, oder ob alle Gesichter von Scheinwerfern überblendet werden. Aber ich denke, auch das muß geübt werden: diese Blicke lange zu ertragen, von Fremden. Das hier ist vielleicht auch wieder als Allegorie zu verstehen: zu diesem Zeitpunkt im Stück zieht Amal bereits das Interesse des Geheimdienstes auf sich, starre, unerwünschte, lange Blicke von sehr ernsten, oft älteren Männern.
Gott ist nicht schüchtern handelt von mehreren Syrern: Amal, einer angehenden Schauspielerin, die auf einer Demonstration Youssef kennenlernt. Youssef ist Bruder von Hammoudi, der in Paris lebt und seinen syrischen Paß erneuern kommt, der ihm prompt entzogen wird. So sitzt er nun fest in seiner Heimat, während in Paris ein Job als Schönheitschirurg, seine Verlobte und sein ganzes Leben auf ihn warten. Die Menschen, insbesondere Amal und Youssef, demonstrieren ein wenig und regen sich übers System auf, das ihnen Freiheiten verwehrt. Die Situation verschärft sich, die Geheimdienste schauen sich alles nicht mehr nur an, aus den Demos wird eine Revolution, die zu einem Bürgerkrieg führt. Alles wird zerstört, Amal und Hammoudi flüchten übers Mittelmeer, das Boot sinkt, sie beiden landen als Geflüchtete in Deutschland. Amal übernimmt die Fürsorge um ein elternloses Kind, das das Bootsunglück überlebt.
Ihre Heimat ist zerstört und die noch funktionierenden Reste befinden sich in den Händen jener Männer, die es aktiv zerstört haben: Assads und seiner Gehilfen. Amals und Hammoudis Freunde und Familie sind tot oder immer noch irgendwo in den Trümmern ihres Landes oder auf dem Weg von dort untergetaucht. Ihre Jobs als Ärzte und Schauspielerinnen und ihre Ausbildung sind dahin. Hier in Deutschland betrachtet man sie als Ziffer in einer Statistik über Geflüchtete, die am Rand der Gesellschaft in einem fremden Land, allein in Armut und Chancenlosigkeit leben. Totale innere und äußere Zerstörung für alle Betroffenen, und persönliche Geschichten, die im Westen niemand hören will. Daher dieses Theaterstück, damit wir das, was da in den letzten zehn Jahren in Syrien ablief, nicht so leicht verdrängen.
Erinnert ihr euch noch an die Revolutionen in Arabien und im Norden Afrikas? Damals lief die Organisation oft über Twitter. Wir hier im globalen Norden haben jedenfalls von diesen Revolutionen noch viel kurze Videos im Gedächtnis, die damals über soziale Medien verteilt wurden, als eine Art Nachrichten gemacht von Teilnehmer:innen. Daran erinnert das Stück, wenn es Smartphones verwendet, die die Schauspieler:innen einsetzen, um sich selbst beim Sprechen zu filmen oder andere bei Aktionen. Was das Smartphone aufnimmt, sehen wir auf der verhangenen Wand in der Mitte der Bühne. Zugleich sehen wir auch die Menschen, während sie sich aufnehmen. Wir sehen also den Prozeß des Aufnehmens und sein Ergebnis, zeitgleich.
Das Bühnenbild von Daniel Roskamp ist eine Plakatwand, die sich drehen läßt auf einem Kreis in der Mitte der Bühne. Vorne sind Propagandabilder, wie wir sie aus dem Nahen Osten kennen: froh und siegessicher wirkende Machthaber, die die Zukunft willkommen heißen. Diese sind erst verhangen, werden später aber mit Pinseln entstellt, wobei Farbe auch auf die Schauspieler spritzt. Anfangs brandmarken sie diese Flecke für die Geheimdienstler als zu jagende Plakatbeschmierer. Später lässt sie diese unordentliche, befleckte Kleidung wie Flüchtlinge eines Bürgerkriegs aussehen. Zugleich stehen diese Flecken vielleicht auch für schwer zu entfernende Stigmata, die Menschen auf der Flucht immer und überall verfolgen? Auf der Webseite des Stücks läuft ein Video, da seht ihr Cynthia Micas, wie sie farbbekleckst aussieht.
Irgendwann zerstören Amal und Youssef die Plakatwand vollständig, laut, wütend, gewalttätig, im Rahmen der anstrengendsten Szene des Stücks. Danach aber bleibt der Müll liegen, ist die Bühne eingestaubt und alle Schauspieler machen einfach weiter mit dem Stück. Wie lässt sich besser Krieg, Revolution und Zerstörung darstellen?
Während des gesamten Stücks sind alle Schauspieler auf der Bühne eingesperrt und verstecken sich, wenn sie nichts zu spielen halten, hinter der Plakatwand. Oder sie sind im Hintergrund zu sehen: liegend, sitzend, irgendwie beschäftigt. Amals Vater zieht sich in einer Szene im Halbdunkel um, Amal selber liegt oft irgendwo im Halbdunkel unter der Plakatwand herum, wenn sie gerade nicht spielt. Die musikalische Begleitung, Lothar Müller mit Gitarre, saß auch die ganze Zeit sichtbar am Rand der Bühne, wie ein Straßenmusikant in Syrien vielleicht. Mir sind nur zwei Ausnahmen aufgefallen, wo sich ein Schauspieler im Dunkeln von der Bühne entfernt, um kurze Zeit später hinter den Zuschauern den Raum zu betreten. Uns damit zu Teilnehmern zu machen, weil es für den Moment so aussieht, als ob einer von uns, aus unserer Menge, da mitwirkt.
Erst am Ende des Stücks, nach ca. 85 intensiven Minuten, verlaßen die Schauspieler nach und nach die Bühne: und treten damit aus dem Licht unserer Aufmerksamkeit und verschwinden in ihr Leben oder ihren Tod. Auch das verstehe ich als Allegorie für ein Leben in Revolution, Bürgerkrieg oder Flucht. Man verliert dabei als Erstes seine Privatsphäre und ist fast immer und überall, im Luftschutzkeller, im Bus, im Flüchtlinglager mit anderen Menschen zusammen und ihren ständigen Blicken ausgesetzt. Und nicht zuletzt als Allegorie für dauernde Beobachtung: hier durchs Publikum, da durch Assads Geheimpolizei.
Was mir auch auffällt: vier Leute spielen ein Theaterstück über Syrien. Cynthia Micas’ Vater kommt aus Mosambik. Armin Wahedi spricht laut der Webseite seiner Agentur Deutsch, Kurdisch und Farsi als Muttersprache. Aber Oliver Kraushaar und Marc Oliver Schulze sehen definitiv deutsch aus, jedenfalls nicht offensichtlich syrisch. Nun muß ich ehrlich gestehen, daß ich selber wahrscheinlich keine Menschen aus Syrien persönlich kenne, sondern höchstens einen allgemeinen Eindruck von Syrer:innen habe. Baschar al-Assad sieht auf seinem Wikipedia-Foto ziemlich ähnlich wie Oliver Kraushaar während des Stücks aus. Und was tun, wenn sich die passenden Ethnien einfach nicht finden - das Stück ablehnen? Mit der Aufführung warten, bis sich passende Schauspieler:innen finden? Oder hoffen, etwas über die Austauschbarkeit von Individuen auszusagen, indem vorhandene Schauspieler spielen?
Ich liebe Theater, weil es mich immer zum Nachdenken bringt. Jetzt liebe ich es noch mehr, weil Gott ist nicht schüchtern mich auch zum Schreiben dieses Blogposts bringt. Theater muß politisch sein: dieses Stück ist es. Theater soll manchmal laut sein, aggressiv: Häkchen, aber ohne das ich Lärm (als die Plakatwand zerstört wurde) als störend empfand. Der Krach beim Zerstören der Plakatwand hat eine Funktion: auch ein Krieg ist nicht leise, nur weil ich das gerne so hätte. Am meisten haben mir Cynthia Micas und Oliver Kraushaar gefallen: Micas wegen ihrer Intensität und ihrer Gesangseinlage, Kraushaar wegen seiner Ironie als Geheimdienstler und seiner Verzweiflung als Vater.
Und wenn Gott ist nicht schüchtern vielleicht auch etwas unkonventionell daher kommt, ist es relevant, insbesondere hier und jetzt in Deutschland. Der Bürgerkrieg in Syrien war für Assad überhaupt nur erfolgreich, weil Putins Rußland eingriff. Einer seiner Gründe: irgendwelche Völker können doch nicht selber einfach beschließen, daß sie ihre Anführer nicht mögen. Wo man doch weiß, daß die Völker solche Leute wie Assad und Putin immer lieben und wenn es Demonstrationen gibt, die was anderes sagen, dann sind die doch wohl von ausländischen Geheimdiensten und den westlichen Medien organisiert. Daher darf man auch die Demonstranten zusammenprügeln, denn sie sind nicht mehr als ausländische Schergen. Das sieht Putin immer noch so, siehe den aktuellen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Und insbesondere Deutschlands im internationalen Maßstab zahlreiche Aufnahme eben solcher Flüchtlinge wie Amal und Youssef aus Syrien haben 2015 vor Augen geführt, wie hilflos unsere Bürokratie ist, wenn sie Geflüchtete aufnehmen und begleiten soll, und zu einem Rechtsruck in unserer Politik geführt, die AfD stark gemacht. Politiker wie Merz und Söder von der CDU sind sprachlich kaum noch von der AfD unterscheidbar und finden viele Wähler.
Also, es lohnt sich. Nicht nur wegen Cynthia Micas und Oliver Kraushaar, sondern weil es insgesamt eine interessante, lebendige Aufführung ist. Beklemmend, wie schnell ein lebenswertes Leben, für dessen Verbesserung man demonstrieren geht, komplett zerstört werden. Beklemmend auch, wie schnell und wie leicht wir alle sowas ignorieren und vergessen lernen.