Sturmhöhe von Emily Brontë gelesen

In einem Klassiker-Leseclub in Literal.club war das Buch für den November Sturmhöhe von Emily Brontë. Leser können dort Zitate oder eigene Anmerkungen posten, was andere Leser kommentieren können. Ich habe mitgemacht und an mehreren Tagen gepostet. Fast alle meine dortigen Postings habe ich hier zusammengefasst und hier und da gekürzt oder erweitert. Das ist keine Rezension und mit dem Inhalt der Geschichte beschäftige ich mich hier fast gar nicht, sondern mehr mit dem, was mir auffiel beim Lesen.

Gelesen habe ich Sturmhöhe vor ein paar Tagen im November 2021.

Tag 2, Kapitel 6 - Winter und Erzählstimmen

Wie ich jetzt verstehe, habe ich das erste Kapitel anfangs völlig falsch gedeutet, weil es mich durch seine Lebendigkeit an die Möglichkeiten eines Sommermorgens in der Kindheit erinnerte. In den Ausführungen Mr. Lockwoods fühlte ich Energie aufblubbern wie eine kräftige Suppe auf dem Herd und alles, was über Kinder erzählt wurde, hatte dieses Gefühl der totalen Freiheit eines Sommermorgens in den Ferien.

Davon abgesehen, ist der Rest der Geschichte, und ich bin derzeit im 6. Kapitel, dunkel, brütend und faulig. Jede einzelne erwachsene Person ist so von sich und den eigenen Überzeugungen eingenommen, daß sie alle anderen mindestens passiv-aggressiv behandelt. Die meisten verzichten aufs Passive und sind gleich vollkommen aggressiv. Es ist Winter, kalt, naß und ohne Sonne. Kerzen glühen und Feuer brennen.

Bislang habe ich vier verschiedene Stimmen gehört, die uns die Geschichte erzählen. Der Haupterzähler ist Mr. Lockwood, der neue Pächter von Trushcross Grange. Catherines Stimme konnten wir für ein paar Seiten direkt aus ihrem Tagebuch vernehmen. Ihre Geschichte wird kurze Zeit später aus der Sicht einer anderen Person, Ellen Dean, bestätigt, die auf Bitte von Mr. Lockwood die Geschichte der Liebe zwischen Catherine und Heathcliff erzählt. Und in ihrer Geschichte kommt ab und zu auch Heathcliff direkt zu Wort. Später hören wir auch noch oft von Joseph, dem Hausknecht, und seinem Dialekt.

Tag 3, Kapitel 11 - Ohne Diener geht nichts / Früher Tod

Es wird im Buch selber nicht so richtig erwähnt, aber damals muß es tonnenweise Hausarbeit gegeben haben, insbesondere in solch gut situierten Haushalten mit höheren Ansprüchen an reinliche Garderobe. Das wurde mir jedenfalls klar, als Catherine wie verwandelt von den Listons zurück kommt, wo sie wegen einer Krankheit mehr als einen Monat lebte. Als sie zurück kam, war sie auf einmal vornehm, und trug ein weißes, gebügeltes Kleid. Sie erwähnte Heathcliff gegenüber, wie dreckig dessen Hände seien. Diese Szene ist der Anfang des Haßes, den Heathcliff den Listons gegenüber verspürt.

Und wer erledigt diese ganzen Hausarbeiten, die den Rahmen heutiger Hausarbeit übersteigen? Wäsche waschen und bügeln war Schwerstarbeit damals, ohne unsere modernen Maschinchen wie Geschirrspüler, Waschmaschine und Trockner. Verrichtet wurde die gesamte Hausarbeit für die unmittelbare Familie, ihr Gesinde und den Hof von den Dienern. Diese gaben dafür ihre eigenes Leben komplett auf, um wenig respektierter, rund um die Uhr verfügbarer Teil der Gutsfamilie zu sein, die sie angestellt hat.

Beim Lesen habe ich niemals den Herrn des Hauses oder seine Frau bei der Arbeit bemerken können. Sie geben immer nur Befehle an alle anderen. Die Aufgaben, die sie delegieren und niemals selber erledigen, beinhalten übrigens auch Erziehung und tägliche Beschäftigung der Kinder. Eltern sehen ihre Kinder höchstens beim Essen oder beim Beten, so fühlt es sich an.

Frances Earnshaw stirbt kurz nach der Geburt ihres Sohnes Hareton. Die Sterblichkeit von Müttern (bei oder nach der Geburt) und insbesondere der Kinder (bei der Geburt oder in der frühen Kindheit) war damals sehr viel höher als heutzutage. Dies ist der Hauptgrund für die damals niedrige Lebenserwartung. Die Leute wurden auch oft siebzig Jahre und älter, wie der stetig schimpfende Hausknecht Joseph von Wuthering Heights beweist. Nur starben viele Kinder und Frauen sehr jung, was den Durchschnitt senkte.

Das erinnerte mich an den Tod der Prinzessin Lisa Bolkonski in Tolstois Krieg und Frieden, das ich vor Kurzem gelesen habe. In keiner spezfifischen Weise, aber sie starb auch bei der Geburt ihres Sohnes Nikolai, denn wie gesagt, damals war der schmerzliche Tod der Mutter bei einer Geburt viel üblicher als heute.

Tag 4, Kapitel 15 - Tiere und Gartenarbeit

Bislang habe ich nur wenige Tiere in diesem Buch erlebt. Das ist ein bisschen überraschend, denn immerhin spielt das Buch hauptsächlich auf zwei Gutshöfen und dem Moor dazwischen. Das erste wirkliche Tier, das uns Lesern präsentiert wird, ist Isabelles Hund. Diesen treffen wir fast erhängt an, wenn wir ihm das erste Mal begegnen (Heathcliff setzt gerade die ersten Teile seiner Genugtuung um). Dann wird das Hündchen jedoch befreit und verschwindet wieder vollständig in den Tiefen der Seiten, um nie wieder aufzutauchen.

Wie gestern bei der Hausarbeit, spielt auch Garten- und Farmarbeit fast keine Rolle in der Erzählung. Emily Brontë lebte sehr zurückgezogen im Haus ihres Vaters, eines Pastors. Sie war aber zumindest in ihrem Haus sehr fleissig. Emily Dean, so sagt das Nachwort, sei einer Haushaltshilfe nachempfunden, die sich sehr um Emily kümmerte, als ihre Mutter starb. Später setzte sich Emily für diese Zieh-Mutter ein, als sie ein Pflegefall wurde. Emily übernahm ihre Arbeiten im Haushalt und die Pflege ihrer Zieh-Mutter, damit diese weiterhin im Haushalt der Brontës leben durfte.

Tag 5, Kapitel 17 - Speere, die an beiden Enden spitz sind

Ein Zitat, weil es so schön ist:

Aber Verrat und Gewalt sind Speere, die an beiden Enden zugespitzt sind - sie verwunden diejenigen, die als letztes Mittel auf sie zurückgreifen, schlimmer als ihre Feinde.

Tag 7, Kapitel 21 - Dunkel und böse

Die Geschichte wird dunkler und dunkler. Gibt es einen einzigen Charakter, der wenigstens ab und an eine gute Tag tut? Dieses Buch ist voll von schlecht gelaunten Menschen, die anderen nur Böses wünschen und daran arbeiten, es umzusetzen. Ich habe selten ein Buch gesehen, daß so voll Haß, Mißverständnissen und Verachtung ist.

Ein paar Dinge fielen mir auf:

  • An einem Punkt in der Geschichte lebte die eine Schwester aus Wuthering Heights in Trushcross Grange und die andere aus Thrushcross Grange in Wuthering Heights. Beide Bruder-Schwester-Paare waren (fast komplett) auf den Kopf gestellt.
  • Ellen Dean, die Erzählerin des größten Teils der Geschichte, erreicht nur Gutes, wenn sie etwas tut. Wenn sie spricht, oder noch schlimmer: schweigt, kommt immer nur Schlechtes dabei raus.

Tag 8 - Vorbereitet für Leben und Liebe

Die jungen Frauen in diesem Buch wachsen sehr isoliert auf, was dem Leben von Emily Brontë ähnelt. Sie leben in ihren Häusern, die sie fast nie verlassen, und wenn, dann nur für kurze Zeit. Sie werden ständig beaufsichtigt und überwacht. Als sie dann zum ersten Mal einen jungen Mann von außerhalb ihrer Familie treffen, tendieren sie dazu, sich sofort Hals über Kopf zu verlieben (siehe Isabelle oder die junge Catherine). Ihre Eltern wollen sie bewahren und schützen, aber für mich sieht es so aus, als ob dieses Beschützen der Grund ist, warum sie für das Leben und die Liebe so unvorbereitet sind. Sie fallen dem erstbesten Kerl zu Füßen, den sie treffen, weil sie denken, noch intensiver kann Liebe ja nicht werden.

Tag 9, Kapitel 31 - Frauen als Wertgegenstände

Weiß irgend jemand, was damals der Skandal um dieses Buch war? Es muß die Behandlung von Frauen sein, nehme ich an. Heathcliff ist voller Haß und schlägt jede Frau, die er kennt. Auch andere Männer im Buch schlagen Frauen, wann immer sie sich danach fühlen. Aber Heathcliff beraubt einfach so nebenbei zwei Frauen ihrer Freiheit und Würde, worüber er nicht mal nachzudenken braucht: Eine Frau ist ein Wertgegenstand für ihn.

Sowas in ein Buch zu schreiben, war der Skandal, denke ich. Das Buch handelt von mehreren Frauen, denen verboten wird, ihren eigenen Partner, ihren eigenen Lebensweg und sogar den Ort, an dem sie leben wollen, selbst zu bestimmen. Ich denke, dieses Buch ist als einer der Auslöser der ungefähr 50 Jahre später entstehenden Suffragetten-Bewegung zu verstehen, die Frauen Wahlrecht und weitere Rechte erkämpfte (da bin ich aber nicht ganz sicher, offen gesagt).

Weitere Beobachtungen:

  • als er Catherine für immer verlor, hat sich Heathcliff für die dunkle Seite entschieden (vergleichbar mit Anakin Skyywalker)
  • die meisten Männer im Buch sind dumm und etwas einfallslos (außer Heathcliff, der außerdem einer von zwei kräftigen, athletischen Männern ist, abgesehen von allen im Haushalt oder auf dem Feld arbeitenden Männern)
  • die Männer lesen auch nicht oder kaum, während fast alle Frauen lesen und generell empathischer und schlauer sind
  • die einzige Ausnahme dazu ist Hareton, der lesen und lernen will und sich gut benehmen möchte, sobald er seinen Unterdrücker-Ersatz-Papa Heathcliff abschütteln kann
  • Hareton ist übrigens neben Heathcliff der einzige andere athletische, hübsche Mann im Buch
  • die Frauen sehen alle sehr gut aus

Tag 10 - Lohnende Lektüre

Fertig. Beendet. Das klingt vielleicht erlöst. Aber das Buch war es wert, gelesen zu werden. In den letzten paar Kapiteln tritt dann endlich das auf, wovon immer alle reden in Zusammenhang mit diesem Buch: Liebe, Romanzen, Leute mit rot anlaufendem Kopf und all das ganze Zeug. Auf einmal las ich lange Passagen meiner Frau vor. Und ich bin ehrlich: ich hab geweint.

Wir erfahren endlich, was Heathcliff passiert ist (und wie ich gestern sagte, Heathcliff ist sehr ähnlich zu Anakin Skyywalker, nur eben eigentlich chronologisch andersrum) und welch höllischen Kampf er mit sich selbst den Rest seines Lebens austrug, weil er die Liebe seines Lebens verloren hatte. Dies ist die Lektion des Buches: Wenn Du die Liebe Deines Lebens gefunden hast, gibt es nur noch eins zu tun - sie niemals wieder zu verlieren.

Wir erleben, wie die junge Catherine ihre Fesseln abschüttelt, indem sie einen Weißen Ritter findet, der für sie kämpft. Ich habe mich so für die beiden gefreut!

Emily Brontë hat in ihrem Leben keine Liebesbeziehung erlebt, so scheint es. Ihre Beziehung zur Liebe ist wie die von Mr. Lockwood, der an einer Stelle nicht mal glaubt, eine ein Jahr dauernde Liebe sei überhaupt prinzipiell möglich. Emily lebte mit ihren Schwestern und ihrem Vater und starb jung, aber doch nach den meisten Familienmitgliedern. Darum hat dieses Buch wahrscheinlich auch soviel Tod in sich.

Ich habe viel über eine Welt gelernt, bei der ich froh bin, daß ich nicht in ihr leben muß. Eine Welt, in der andere über Dein Leben und Deine Liebe entscheiden. Aber lasst uns nicht vergessen, daß diese Welt auch heute noch irgendwo auf unserem Planeten in ähnlicher Form existiert.

Anfangs war ich skeptisch, aber ich bin froh, daß ich dieses Buch gelesen habe. Ein Klassiker, der sich lohnt, Leute.

Und in einem Lese-Club lesen bedeutet intensiveres Lesen, finde ich. Ich notiere mir mehr, was interessant sein könnte für andere. Ich achte auch mehr auf Erzählformen und Struktur und solche Sachen, auf die ich normalerweise pfeife. Und die vielen, kurzen Beobachtungen lassen sich am Ende sehr viel einfacher zusammenfassen, als wenn ich mich am Ende hinsetze und überlege, was so los war.

Wer auch mal bei einer gemeinsamen Lese-Aktion dabei sein will, soll sich bei mir melden. Ich habe noch ein paar Einladungen für Literal.club.