Was ich 2020 gelesen habe, Teil 1

Vielerorts im Web werden die besten Bücher aus 2020 empfohlen, was meistens nur Neuerscheinungen des Jahres sind. Die Mitarbeiter des Paris Review geben gerne auch Klassiker an, s. The Paris Review Staff’s Favorite Books of 2020.

Ich bin kein Fan davon, immer nur neue Bücher zu lesen, denn ich finde, die neuen Bücher müssen sich erstmal beweisen. Ich empfehle, auch immer mal Klassiker zu lesen, weil eine unabdingbare Voraussetzung dafür, ein Klassiker zu werden, nun mal ist, ein gutes Buch zu sein. Außerdem schätzen wir die Belesenheit der Autoren, die wir mögen, sehr hoch ein - warum also nicht selber belesen sein, d.h. selber Klassiker lesen? Ich achte daher auf eine gute Durchmischung von alt und neu, und auch immer abwechslungsreich durch die Genres, wie ihr auch gleich an meiner Leseliste für 2020 sehen könnt.

Ich habe die von mir in 2020 gelesenen Bücher, meinen Notizen nach um die 40 Stück, in mehrere Abschnitte sortiert, weil das für einen Blogpost zu viel wird. Wir fangen an mit Klassikern und anspruchsvoller Literatur, wenn ich das mal so nennen darf. Es soll weitergehen mit Krimineller Unterhaltung und Fantasy, bevor wir dann zu normalen Romanen, SciFi und Sachbüchern kommen.

Klassiker und, sagen wir mal, anspruchsvolle Literatur

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Einer dieser Klassiker war Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust. Die von Bernd-Jürgen Fischer neu übersetzte Gesamtausgabe von Proust Suche nach der verlorenen Zeit bei reclam habe ich in 2019 angefangen, und soweit ich das nachvollziehen kann, bin ich mit dem letzten, dem siebten, Band in 2020 fertig geworden. Nicht immer was das Lesen von SvZ eine einzige, durchgängige Freude. Manchmal liest es sich zäh, verlangt seinen Lesern viel Ausdauer ab. Aber es hat sich gelohnt, denn es ist eins der wenigen Bücher, an das man sich lange zurück erinnert. Bestimmte Dinge wie das Verknüpfen von Erinnerungen mit Sinneseindrücken zum Beispiel, aber auch bestimmte Bilder, Maler, Konzerte bis hin zum Dreyfus-Prozess bringen immer wieder die Erinnerungen an den jungen Marcel zurück. Nicht viele Bücher bleiben auf diese Art und Weise präsent.

Lydia Davis: Essays One

Jedenfalls ganz sicher am Jahresübergang 2019/2020 habe ich von Lydia Davis die Essays One gelesen. Empfohlen wurden sie mir in mehreren Zeitschriften unabhängig voneinander, z.B. im New Yorker und auf Lithub. Ich bin immer noch schwer begeistert von dieser Essay-Sammlung über Gedichte, Sprache und Kunst und warte sehnsüchtig auf den nächsten Band (Essays Two, in dem es mehr um Übersetzung geht). Lydia Davis hat mich zum Führen eines Tagebuchs gebracht, denn ich wollte auch so schlaue Beobachtungen über Gelesenes, Gesehenes und Erlebtes notieren wie sie. Ich nenne es jetzt übrigens Journal, denn Tagebuch impliziert täglich, was ich nicht immer schaffe, und was genau dann zur Last wird.

Und an die geistreichen Bemerkungen von Lydia Davis komme ich logischerweise trotz Journal nur sehr selten heran. Das kann man z.B. an diesem Blogpost sehen: Ein schwer zu findendes Kafka-Zitat. Das Datum dort ist Januar 2020, also habe ich Lydia Davis wirklich um die Jahreswende gelesen.

Walter Kempowski: Das Echolot

Nebenbei lese ich immer in Walter Kempowskis Echolot, einer zehnbändigen Kollage von Tagebuch-Einträgen, Briefen, Berichten, Presse-Mitteilungen u.ä. von deutschen, russischen, englischen, amerikanischen Menschen, bekannt oder unbekannt, mächtig und involviert in die Geschicke ihrer Staaten oder nur kleine, unbekannte Räder der Maschine, die alles zerstört. Kempowski hat gar nichts geschrieben, sondern nur die Auswahl des Materials getroffen. Dies sind also wahre Geschichten. Nach den vier Bänden, die vier Wochen im Frühjahr 1943 beschreiben, bin ich nun im dritten Band der vier Bände, die im Januar/Februar 1945 einige Tage beschreiben.

Die Einträge sind chronologisch geordnet, erzählen also aus vielen Sichten das, was an einem bestimmten Tag passiert ist. Die einzelnen Narrative, z.B. Briefe zwischen einer Tochter, die an der Ostfront die Truppen mit Schauspielkunst, Sketches und amouröser Untergangs-Spielchen vertröstet, und ihrer Mutter, treten erst nach und nach hervor. Und wenn nicht, so waren die Briefe eben länger unterwegs, als der Zeitraum des jeweiligen Bandes, oder die Briefe gingen verschollen, oder die Briefschreiber wurden getötet, an der Front, durch Bomben zuhause oder im Konzentrationslager.

Wenn ich jemals auf eine einsame Insel ziehen darf, und wenn ich mir dann auch noch Bücher mitnehmen darf, dann wird es das Echolot sein. Denn das ist niemals langweilig.

Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten (1933-45)

Über das Echolot habe ich in einem Buchladen gesprochen, weil mir Andre Gides Tagebucheinträge aus dem Frühjahr 1943 aus Tunis einfielen. Es gab da immer Spannungen mit einem jungen Mitbewohner. Eine andere Käuferin in diesem Buchladen empfahl mir daraufhin, nach einem kurzen Gespräch über Gide und Tagebücher im Allgemeinen, die Tagebücher von Victor Klemperer. Dessen Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten, neu erschienen im Aufbau-Verlag sind seine Tagebücher von 1933-45, wo ich gerade im Mai 1942 angekommen bin.

Klemperer hat Tagebuch geführt, seit er 16 ist, worauf ich neidisch bin (wie so viele Dinge im Leben sollte man sich aber an dieser Stelle nicht ärgern und das Tagebuch- (oder Journal-)Schreiben gleich wieder einstellen, weil es nun mal unvollständig sein muß, wenn man so spät anfängt, sondern den heutigen Tag lieber als den ersten vom Rest meines Lebens sehen: Klemperer hätte sich ja auch ärgern können, daß er nicht mit 14 anfing). Klemperer führt übrigens auch nicht täglich Tagebuch.

Er sammelt jedenfalls Eindrücke über die Sprache des Dritten Reichs, was nach dem Krieg zu seinem Buch Lingua Tertii Imperii - Notizbuch eines Philologen führt. Er liest und recherchiert für seine Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert* und notiert dazu auch Verbindungen zur seinem Leben im Dritten Reich. Solange die Nazis Juden noch ins Kino oder Autofahren ließen, notiert er Eindrücke über Film und Funk oder über Autofahrten und die Quälerei mit den damaligen Fahrzeugen. Dazu kommen Eindrücke des Lebens als Verfolgter im Dritten Reich (Klemperer war als Sohn jüdischer Eltern geboren, aber früh zum Evangelismus konvertiert, um seine nichtjüdische Frau Eva zu heiraten) in einem Deutschland, daß einen Weltkrieg anfängt, und die ständig zunehmende Angst vor Gestapo, Abtransport und Hunger.

Ich hätte nie gedacht, daß Tagebücher so interessant sein können. Liegt das daran, weil sie nicht-fiktiv sind? Ich glaube nicht, denn auch in Tagebüchern ist ja nicht zwangsläufig alles wahr. Ich beneide tagebuchführende Leute um die Tiefe ihrer Gedanken - und hier im Regal stehen als nächstes bereits herum: die Briefe von Helmuth James von Moltke an seine Frau, die Tagebücher von Käthe Kollwitz und Susan Sontag und noch ein paar mehr als 3 Bände des Echolots, die ja auch viel Tagebuch-Notizen enthalten. Weitere Bände von Victor Klemperer hole ich mir auch, denn er hat in vier deutschen Staaten Notizbuch geführt (Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, DDR).

Franz Kafka: Der Prozeß

Im Rahmen meiner Bemühungen, Klassiker beim Lesen nicht zu vergessen, habe ich dieses Jahr auch Der Prozeß von Franz Kafka gelesen. Kafka geht mit Sprache um wie ein Chirurg mit dem Skalpell: Kafka zerlegt mit seiner Sprache die Realität in ihre Bausteine, die auf einmal einzeln und allein vor dem Scheinwerferlicht unserer Aufmerksamkeit zu schwitzen anfangen.

Der Prozeß selber ist ein Verfahren der öffentlichen Meinung über Josef K., das er zu führen versucht wie einen Prozeß vor Gericht. Weil er den Unterschied nicht begreifen will, muß Josef K. scheitern und dieses Scheitern macht die Lektüre manchmal unangenehm, ist aber leider notwendig. Quasi wie ein Skalpell, das verletzen muß, um zu heilen. Denn ein Prozeß der öffentlichen Meinung funktioniert nun mal anders: es gibt keine schriftliche Anklage und überhaupt auch keine schriftlichen Akten. Es gibt keine richtigen Termine, keine Ankläger, Verteidiger und Richter. Alles passiert ständig und überall, aber meistens hinter dem Rücken von Josef K.