Ein schwer zu findendes Kafka-Zitat

Lydia Davis zitiert in Essays One eine schöne Kafka-Stelle:

These are the seductive voices of the night; the Sirens, too, sang that way. It would be doing them an injustice to think that they wanted to seduce; they knew they had claws and sterile wombs, and they lamented this aloud. They could not help it if their laments sounded so beautiful.

Eine wunderschön illustrierte Version von The Sirens findet sich übrigens bei Aimee Pong.

Ich versuche mal, das in deutsch zu finden. Und es gestaltet sich sehr schwer, denn das gesamte Web ist voll von Erwähnungen, Interpretationen, Hausaufgabenfragen zu Das Schweigen der Sirenen, was als einzelnes Gedicht veröffentlicht wurde.

Das, was ich suche, heisst auf deutsch wahrscheinlich Die Sirenen (engl. The Sirens) und ist Teil einer amerikanischen Ausgabe mit dem Namen Kafka: Parables and Paradoxes von Nahum N. Glatzer aus dem Jahre 1961, die sogar bilingual ist (mir also auch die deutsche Version dieses kurzen Sirenen-Textes da oben liefern würde). Aber leider findet sich kein Gedicht, keine Parabel, kein Paradoxon in der Gesamtausgabe von Kafka im Fischer-Verlag, die ich hier habe (die sogenannte Kafka-Kassette).

Nun habe ich eine Referenz gefunden, dass es Teil eines Briefs an Dr. Robert Klopstock sein soll, allerdings ohne Datumsangabe. Und siehe, in meiner Kafka-Kassette gibt es einen dicken Band Briefe von 1902-1924 und der enthält auch gleich mal ca. 40 Briefe an Dr. Robert Klopstock. Ich suche also weiter quer durch diese Briefe.

Und während ich da so vor mich hin suche, finde ich das hier von Kafka, aus einer Postkarte an Dr. Robert Klopstock vom 23. September 1921:

Sie will einen Rat, aber die guten Ratschläge hängen zwischen den Sternen - darum ist es dort so dunkel - wie soll man sie herunterholen.

Aber das, was ich suche, finde ich in keinem Brief Kafkas an Klopstock. In denen geht es meistens um persönliche Informationen, wo sich wer aufhält, wie es wem geht und manchmal auch über literarische Versuche Kafkas, Klopstocks und anderer gemeinsamer Bekannter. Und zum einen hat Max Brod diese Briefe öfter Mal gekürzt wiedergegeben und zum anderen sind einige Briefe Kafkas an Klopstock gar nicht im Nachlass Kafkas aufgetaucht, sondern erst viel später im Nachlass Klopstocks.


Einschub zu den Erfordernissen eines regen Briefverkehrs: wie schafft es eigentlich Max Brod, Briefe von Franz Kafka zu veröffentlichen, die der z.B. an Robert Klopstock schrieb? Wenn der Brief abging, landete er doch bei Robert Klopstock, wo immer der sich aufhielt.

Ich glaube, dass man früher Kopien von abgehenden Briefen und Postkarten schrieb, damit man eine Referenz hatte, worüber diskutiert wurde. Nehmen wir an, Klopstock antwortet und bezieht sich auf irgendwas, was Kafka ihm geschrieben hatte. Dieser Brief, auf den sich nun bezogen wird, liegt aber bei Klopstock auf dem Schreibtisch - wie soll Kafka sich erinnern, was er da geschrieben hatte?

Kopierer waren noch nicht erfunden und damals pflegten die Leute munteren Briefverkehr, also könnt ihr euch vorstellen, was das bedeutete: einen fertigen Brief darf man gleich nochmal abschreiben, damit man eine Referenz hat. Und für die Qualität bedeutet das meistens auch viel, denn das Kopieren wurde manchmal sicherlich zum Überarbeiten.

Aus Echolot von Walter Kempowski, einer Art kollektivem Tagebuch über bestimmte Kriegswochen, weiß ich, dass es während des Kriegs gang und gäbe war, die eigenen Briefe zumindest durchzunummerieren. So wußte man, welche Briefe an die Front oder nach Hause durchkamen und welche noch unterwegs oder verschollen sind.


Letzten Endes habe ich nichts gefunden. Ich glaube, die beste Chance wäre das oben erwähnte, bilinguale Buch Kafka: Parables and Paradoxes, aber das habe ich leider nicht. In Ermängelung einer Kafka-Vorlage in Web oder Buch übersetze ich den Text nun selber. Dies hier ist also meine deutsche Version, denn das Original von Kafka habe ich eben in deutsch nicht finden können

Dies sind die verführerischen Stimmen der Nacht; die Sirenen sangen auch so. Es hieße, ihnen eine Ungerechtigkeit anzutun, wenn man dächte, sie wollten verführen; sie wussten, dass sie Klauen hatten und unfruchtbar waren, und genau das lamentierten sie laut. Sie konnten nichts dafür, dass ihr Lamentieren so schön klang.